Pünktlich zum Fest der
Liebe heißt es für uns Freiwillige: Dreimonatiges! Ein Viertel des
Freiwilligendienstes liegt hinter uns, weitere neun Monate folgen.
Nach drei Monaten beende
ich nun das Kapitel „Lotus River“ - und
der nächste Akt trägt den Namen „Observatory“. Zwei Stadtteile
Kapstadts, zwei Gesichter Kapstadts. Bislang habe ich mit Robin,
einem weiteren SAGE Net-Freiwilligen, in einer Gastfamilie in Lotus
River gewohnt. Ein sehr lehrreicher Abschnitt unseres Dienstes, der
mir sehr viel über mich beibringen konnte. Lotus River ist ein
relativ kleiner Stadtteil in den sogenannten Cape Flats. Verglichen
mit den Northern und Souther Suburbs sind die Cape Flats eine ärmere
Gegend. Zu ihnen gehören unter anderem die Townships Gugulethu,
Nyanga und Kayelitsha sowie die Stadtteile Athlone, Grassy Park,
Mitchels Plain und Retreat. Allesamt würde man sie in Deutschland
als soziale Brennpunkte bezeichnen.
Lotus River ist
vorwiegend eine Wohngegend. Wenig Kultur und Unterhaltung, eine sehr
ruhige Gegend; die Nachbarn kennt man in der Regel nur vom Sehen –
eine Gegend also, die für einen jugendlichen Freiwilligen weniger
geschaffen ist. Allerdings hat all dies auch seinen Grund:
Sicherheit.
Geht man nach Südafrika
– ganz egal, ob als Urlauber oder anderweitiger Gast – setzt man
sich im Vorhinein mit dem Thema Sicherheit auseinander. Kriminalität
ist in allen Teilen Südafrikas weit verbreitet. Es gibt unzählige
Verhaltensregeln, die man beachten muss und welche Südafrikaner als
sogenannte Basic Assumptions verinnerlicht
haben und nicht mehr hinterfragen oder gar in Frage stellen. Dazu
gehören mehr oder weniger einfache Regeln wie „Verlasse das Haus
nicht nach Einbruch der Dunkelheit“ oder „Trage niemals unnötige
Wertsachen mit dir“. Regeln, auf die man sich einstellen kann, wenn
man einen zweiwöchigen Urlaub in Südafrika verbringt. Aber ein
Jahr? Oder ein ganzes Leben? Sehr schnell wurde mir bewusst, wie
gefährlich es ist, das Smartphone dabei zu haben, wenn man mal eben
zum nächsten Supermarkt geht. Niemand würde sich in Deutschland
Gedanken darüber machen, doch in Südafrika lässt man das teure
Handy lieber zuhause, bevor sowohl der Einkauf als auch das Handy
gestohlen wird.
Niemals, wirklich niemals
sollte man das Thema Sicherheit und Kriminalität vollständig aus
seinem Kopf verdrängen. Das ist auch der Grund, warum wir gleich zu
Anfang unseres Aufenthaltes einen sogenannten Local Security Plan
erstellen sollten: eine individuelle Umgebungs- und Gefahrenanalyse.
Die deutsche Botschaft möchte von allen Freiwilligen ein solches
Dokument erhalten, um Achtung vor diesem Thema zu erzeugen. Und vor
allem in Lotus River ist diese Achtung bitter nötig.
Dass es in Lotus River so
ruhig ist, liegt an der hohen Kriminalität in diesem Stadtteil. Die
wenigsten trauen sich vor die Haustüre – selbst tagsüber nicht.
Gangs streiten sich in diesem Viertel. Fast jede Nacht hört man, wie
diese sich streiten: lautstark mit Pistole und Gewehr. Aus diesem
Grund herrscht bei Einbruch der Dunkelheit Totenstille auf den
Straßen Lotus Rivers – bis die Gangmitglieder aus ihren
inoffiziellen Wohnungen gekrochen kommen. Dabei ist Lotus River kein
Township mit Wellblechhütten, wie man es aus den Medien kennt. Es
ist ein ganz gewöhnlicher Vorort mit stabilen Häusern und Familien,
die gut verdienen. Auch ein Auto hat hier jeder – was jedoch eher
an dem zusätzlichen Sicherheitsaspekt liegt, als an einem vollen
Konto. Hat man ein Auto, so muss man sich keinerlei Gedanken mehr
über plötzliche Überfälle auf offener Straße machen. Man hat
auch nicht mehr den täglichen Adrenalinstoß, wenn man auf eine
Gruppe wildfremder Jungs zugeht, die einen womöglich, unter
Umständen überfallen könnten. Auch das Pfefferspray muss man nicht
mehr umklammern, wenn man durch Lotus River geht.
Hat man ein Auto, so
verlässt man morgens die Garage, ist tagsüber auf der Arbeit, kauft
nachmittags auf dem Weg nach Hause ein, fährt abends in die Garage
und ist sofort im Haus, weil jede Garage mit dem Haus verbunden ist –
man ist also so gut wie nie auf offene Straße. Dies versucht man
nämlich zu vermeiden. Einen Spaziergang kann man nicht mal eben
machen. Und die Kinder sitzen lieber vor dem Fernseher, als dass sie
auf der Straße spielen – was in Deutschland aber mittlerweile auch
ganz normal ist. Auch ein gemütliches Picknick im Park kann man
vergessen. An so etwas denken Südafrikaner allerdings auch kaum. Für
sie ist dieses Leben, wie beschrieben, ganz normal.
Für einen Westeuropäer
hingegen ist eine solche Umstellung eine mittelgroße Krise. Die
plötzliche, aber umfassende Einschränkung, fast schon Isolierung
trifft hart und fordert einige Zeit zur Eingewöhnung. Niemals mehr
mit Musik auf den Ohren durch die Straßen laufen? Keine Abkürzung
über das Feld nehmen? Anfangs musste ich mich oft am Riemen reißen,
um nicht doch einmal wieder in den Genuss der Freiheit zu gelangen.
Wie soll ich eigentlich abends auf die Partys in der Stadt kommen,
wenn ich weder öffentlichen Verkehr benutzen, noch das Haus bei
Dunkelheit verlasen darf? Weitere Verhaltensregeln, die bezeichnend
sind für den doch so wichtigen Sicherheitswahn sind „Nehme niemals
Hilfe am Geldautomaten an und zähle niemals dein gerade abgehobenes
Geld“ und „Verriegle immer die Autotür, nachdem du eingestiegen
bist“. In Südafrika sind sogenannte Smash and Grab-Überfälle
sehr gefährlich. Steht man an der Kreuzung und wartet auf das grüne
Licht, kommen die Ganoven ums Auto herum, schlagen die Fenster ein
und schnappen sich alles, was lose im Auto liegt. Ein Überfall, der
nur Sekunden dauert, jedoch jahrelange Ängste hinterlassen kann.
Nun fragt man sich
vielleicht: Ganz Südafrika? Nein! Ein kleiner Fleck namens V&A
Waterfront gehört zu den wenigen Orten, an denen man sich keine
Sorgen machen muss. Das liegt jedoch daran, dass die Dichte der
Sicherheitskräfte die der Touristen fast schon übersteigt und
Geschäfte wie Gucci und Louis Vuitton sich dort angesiedelt haben.
Spaß beiseite. Überall in Südafrika muss man sich in Acht nehmen.
Vor allem als Tourist fällt man auf und ist gern gesehen von
Kriminellen. Dennoch ist Lotus River ein anderes Pflaster wie
Observatory. In Observatory leben die Studenten Kapstadts, man kennt
sich, alles liegt zentral, Sicherheitsfirmen und die Polizei
patrouillieren durch die Straßen. Dort ist es weniger ein Problem,
sein Smartphone herauszuholen, um einen Anruf zu tätigen. Dennoch
lauern auch dort Menschen, die nur auf den richtigen Moment warten.
Vor allem in der Touristenhochzeit zwischen Dezember und Februar
steigen die Überfallzahlen in die Höhe.
Oftmals frage ich mich,
ob Südafrika mir mein Lächeln genommen hat. Man wird quasi dazu
getrieben, niemandem mehr auf offener Straße zu vertrauen. Man geht
sich aus dem Weg. Wenn mein Gegenüber mir suspekt erscheint, drehe
ich lieber um und warte fünf Minute an einem sicheren Ort, bis dass
der Weg frei ist. Grüßen tut man sich erst recht nicht. Es ist aber
nur die Minderheit, die wirklich kriminell ist und vor der man sich
in Acht nehmen muss – die aber auch alles kaputt machen kann. Es
ist die Wahrheit, dass Südafrikaner sehr warmherzig und einladend
sind. Die allerwenigsten haben böse Gedanken im Kopf. Die
allermeisten haben die selben Ängste wie man selbst. Dennoch führe
ich an jedem Ort, an dem ich bin, eine „Bestandsanalyse“ durch:
Wo bin ich? Wie gefährlich ist diese Gegend? Wie gefährlich können
mir die Leute in meiner Umgebung werden? Diese und andere Gedanken
gehe ich durch. Schön ist es nicht.
Erst hier in Südafrika
habe ich das wohl größte Geschenk, welches uns Deutschland zu
bieten hat, schätzen gelernt: die Sicherheit. Niemals habe ich mir
Gedanken gemacht, wenn ich nachts um drei Uhr mit dem Nachtbus nach
Hause gefahren bin und weitere zehn Minuten durch die dunkle Stadt
laufen musste, bis ich schließlich zuhause angekommen bin. Mein
Handy habe ich immer bei mir gehabt – und zwar ganz offensichtlich
in meiner vorderen Hosentasche oder gar in meiner Hand. Vielleicht
war ich nur gut behütet oder habe mit meinem Heimatdorf Glück
gehabt, doch dass man die Garage so gut wie nie abgeschlossen hat,
ist mir auch erst hier aufgefallen, wo dies zu den verinnerlichten
Handbewegungen gehört.
Observatory wird ein
neues Kapitel werden, so viel steht fest. Die Schellen und Fesseln,
die Lotus River seinen Bewohnern aufzwingt, werden fallen. Dennoch
wird und muss man weiterhin auf der Hut sein – überall in
Südafrika. Im eigenen Haus fühlt man sich letztendlich am wohlsten
– obwohl man sich dort einschließt, als sei man im Gefängnis.
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