Montag, 11. Januar 2016

Safety First

Pünktlich zum Fest der Liebe heißt es für uns Freiwillige: Dreimonatiges! Ein Viertel des Freiwilligendienstes liegt hinter uns, weitere neun Monate folgen.
Nach drei Monaten beende ich nun das Kapitel „Lotus River“ - und der nächste Akt trägt den Namen „Observatory“. Zwei Stadtteile Kapstadts, zwei Gesichter Kapstadts. Bislang habe ich mit Robin, einem weiteren SAGE Net-Freiwilligen, in einer Gastfamilie in Lotus River gewohnt. Ein sehr lehrreicher Abschnitt unseres Dienstes, der mir sehr viel über mich beibringen konnte. Lotus River ist ein relativ kleiner Stadtteil in den sogenannten Cape Flats. Verglichen mit den Northern und Souther Suburbs sind die Cape Flats eine ärmere Gegend. Zu ihnen gehören unter anderem die Townships Gugulethu, Nyanga und Kayelitsha sowie die Stadtteile Athlone, Grassy Park, Mitchels Plain und Retreat. Allesamt würde man sie in Deutschland als soziale Brennpunkte bezeichnen.

Lotus River ist vorwiegend eine Wohngegend. Wenig Kultur und Unterhaltung, eine sehr ruhige Gegend; die Nachbarn kennt man in der Regel nur vom Sehen – eine Gegend also, die für einen jugendlichen Freiwilligen weniger geschaffen ist. Allerdings hat all dies auch seinen Grund: Sicherheit.
Geht man nach Südafrika – ganz egal, ob als Urlauber oder anderweitiger Gast – setzt man sich im Vorhinein mit dem Thema Sicherheit auseinander. Kriminalität ist in allen Teilen Südafrikas weit verbreitet. Es gibt unzählige Verhaltensregeln, die man beachten muss und welche Südafrikaner als sogenannte Basic Assumptions verinnerlicht haben und nicht mehr hinterfragen oder gar in Frage stellen. Dazu gehören mehr oder weniger einfache Regeln wie „Verlasse das Haus nicht nach Einbruch der Dunkelheit“ oder „Trage niemals unnötige Wertsachen mit dir“. Regeln, auf die man sich einstellen kann, wenn man einen zweiwöchigen Urlaub in Südafrika verbringt. Aber ein Jahr? Oder ein ganzes Leben? Sehr schnell wurde mir bewusst, wie gefährlich es ist, das Smartphone dabei zu haben, wenn man mal eben zum nächsten Supermarkt geht. Niemand würde sich in Deutschland Gedanken darüber machen, doch in Südafrika lässt man das teure Handy lieber zuhause, bevor sowohl der Einkauf als auch das Handy gestohlen wird.
Niemals, wirklich niemals sollte man das Thema Sicherheit und Kriminalität vollständig aus seinem Kopf verdrängen. Das ist auch der Grund, warum wir gleich zu Anfang unseres Aufenthaltes einen sogenannten Local Security Plan erstellen sollten: eine individuelle Umgebungs- und Gefahrenanalyse. Die deutsche Botschaft möchte von allen Freiwilligen ein solches Dokument erhalten, um Achtung vor diesem Thema zu erzeugen. Und vor allem in Lotus River ist diese Achtung bitter nötig.
Dass es in Lotus River so ruhig ist, liegt an der hohen Kriminalität in diesem Stadtteil. Die wenigsten trauen sich vor die Haustüre – selbst tagsüber nicht. Gangs streiten sich in diesem Viertel. Fast jede Nacht hört man, wie diese sich streiten: lautstark mit Pistole und Gewehr. Aus diesem Grund herrscht bei Einbruch der Dunkelheit Totenstille auf den Straßen Lotus Rivers – bis die Gangmitglieder aus ihren inoffiziellen Wohnungen gekrochen kommen. Dabei ist Lotus River kein Township mit Wellblechhütten, wie man es aus den Medien kennt. Es ist ein ganz gewöhnlicher Vorort mit stabilen Häusern und Familien, die gut verdienen. Auch ein Auto hat hier jeder – was jedoch eher an dem zusätzlichen Sicherheitsaspekt liegt, als an einem vollen Konto. Hat man ein Auto, so muss man sich keinerlei Gedanken mehr über plötzliche Überfälle auf offener Straße machen. Man hat auch nicht mehr den täglichen Adrenalinstoß, wenn man auf eine Gruppe wildfremder Jungs zugeht, die einen womöglich, unter Umständen überfallen könnten. Auch das Pfefferspray muss man nicht mehr umklammern, wenn man durch Lotus River geht.
Hat man ein Auto, so verlässt man morgens die Garage, ist tagsüber auf der Arbeit, kauft nachmittags auf dem Weg nach Hause ein, fährt abends in die Garage und ist sofort im Haus, weil jede Garage mit dem Haus verbunden ist – man ist also so gut wie nie auf offene Straße. Dies versucht man nämlich zu vermeiden. Einen Spaziergang kann man nicht mal eben machen. Und die Kinder sitzen lieber vor dem Fernseher, als dass sie auf der Straße spielen – was in Deutschland aber mittlerweile auch ganz normal ist. Auch ein gemütliches Picknick im Park kann man vergessen. An so etwas denken Südafrikaner allerdings auch kaum. Für sie ist dieses Leben, wie beschrieben, ganz normal.
Für einen Westeuropäer hingegen ist eine solche Umstellung eine mittelgroße Krise. Die plötzliche, aber umfassende Einschränkung, fast schon Isolierung trifft hart und fordert einige Zeit zur Eingewöhnung. Niemals mehr mit Musik auf den Ohren durch die Straßen laufen? Keine Abkürzung über das Feld nehmen? Anfangs musste ich mich oft am Riemen reißen, um nicht doch einmal wieder in den Genuss der Freiheit zu gelangen. Wie soll ich eigentlich abends auf die Partys in der Stadt kommen, wenn ich weder öffentlichen Verkehr benutzen, noch das Haus bei Dunkelheit verlasen darf? Weitere Verhaltensregeln, die bezeichnend sind für den doch so wichtigen Sicherheitswahn sind „Nehme niemals Hilfe am Geldautomaten an und zähle niemals dein gerade abgehobenes Geld“ und „Verriegle immer die Autotür, nachdem du eingestiegen bist“. In Südafrika sind sogenannte Smash and Grab-Überfälle sehr gefährlich. Steht man an der Kreuzung und wartet auf das grüne Licht, kommen die Ganoven ums Auto herum, schlagen die Fenster ein und schnappen sich alles, was lose im Auto liegt. Ein Überfall, der nur Sekunden dauert, jedoch jahrelange Ängste hinterlassen kann.
Nun fragt man sich vielleicht: Ganz Südafrika? Nein! Ein kleiner Fleck namens V&A Waterfront gehört zu den wenigen Orten, an denen man sich keine Sorgen machen muss. Das liegt jedoch daran, dass die Dichte der Sicherheitskräfte die der Touristen fast schon übersteigt und Geschäfte wie Gucci und Louis Vuitton sich dort angesiedelt haben. Spaß beiseite. Überall in Südafrika muss man sich in Acht nehmen. Vor allem als Tourist fällt man auf und ist gern gesehen von Kriminellen. Dennoch ist Lotus River ein anderes Pflaster wie Observatory. In Observatory leben die Studenten Kapstadts, man kennt sich, alles liegt zentral, Sicherheitsfirmen und die Polizei patrouillieren durch die Straßen. Dort ist es weniger ein Problem, sein Smartphone herauszuholen, um einen Anruf zu tätigen. Dennoch lauern auch dort Menschen, die nur auf den richtigen Moment warten. Vor allem in der Touristenhochzeit zwischen Dezember und Februar steigen die Überfallzahlen in die Höhe.
Oftmals frage ich mich, ob Südafrika mir mein Lächeln genommen hat. Man wird quasi dazu getrieben, niemandem mehr auf offener Straße zu vertrauen. Man geht sich aus dem Weg. Wenn mein Gegenüber mir suspekt erscheint, drehe ich lieber um und warte fünf Minute an einem sicheren Ort, bis dass der Weg frei ist. Grüßen tut man sich erst recht nicht. Es ist aber nur die Minderheit, die wirklich kriminell ist und vor der man sich in Acht nehmen muss – die aber auch alles kaputt machen kann. Es ist die Wahrheit, dass Südafrikaner sehr warmherzig und einladend sind. Die allerwenigsten haben böse Gedanken im Kopf. Die allermeisten haben die selben Ängste wie man selbst. Dennoch führe ich an jedem Ort, an dem ich bin, eine „Bestandsanalyse“ durch: Wo bin ich? Wie gefährlich ist diese Gegend? Wie gefährlich können mir die Leute in meiner Umgebung werden? Diese und andere Gedanken gehe ich durch. Schön ist es nicht.
Erst hier in Südafrika habe ich das wohl größte Geschenk, welches uns Deutschland zu bieten hat, schätzen gelernt: die Sicherheit. Niemals habe ich mir Gedanken gemacht, wenn ich nachts um drei Uhr mit dem Nachtbus nach Hause gefahren bin und weitere zehn Minuten durch die dunkle Stadt laufen musste, bis ich schließlich zuhause angekommen bin. Mein Handy habe ich immer bei mir gehabt – und zwar ganz offensichtlich in meiner vorderen Hosentasche oder gar in meiner Hand. Vielleicht war ich nur gut behütet oder habe mit meinem Heimatdorf Glück gehabt, doch dass man die Garage so gut wie nie abgeschlossen hat, ist mir auch erst hier aufgefallen, wo dies zu den verinnerlichten Handbewegungen gehört.
Observatory wird ein neues Kapitel werden, so viel steht fest. Die Schellen und Fesseln, die Lotus River seinen Bewohnern aufzwingt, werden fallen. Dennoch wird und muss man weiterhin auf der Hut sein – überall in Südafrika. Im eigenen Haus fühlt man sich letztendlich am wohlsten – obwohl man sich dort einschließt, als sei man im Gefängnis.

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