Freitag, 7. August 2015

Das Leben mit Behinderung - Erfahrungen aus meinem Praktikum


Knapp zwei Wochen ist es her, dass ich mein Praktikum im Haus der Lebenshilfe begonnen habe. Nun ist es auch schon vorbei und die Bestätigung, dass ich die individuelle Vorbereitung auf meinen Freiwilligendienst absolviert habe, steckt in meiner Tasche. Aber was konnte ich noch alles in meinen Rucksack einpacken? Und was kann ich alles in meinen Koffer für Südafrika packen? Anfangs habe ich noch von Ängsten und Unsicherheiten gesprochen. Ich hatte keinerlei Erfahrung im Umgang mit Behinderten. Ich habe mich gefragt, wie man auf sie zugeht, wie man sich verhält, mit ihnen spricht. Ich kann zum Glück sagen, dass all meine Unkenntnisse beseitigt werden konnten. Wenn ich zurückblicke, so muss ich fast sagen, dass ich mehr mitnehmen konnte und gelernt habe, als ich mir vorgestellt habe.

Zunächst wurde mir die Einrichtung genauer gezeigt: Mit meiner Chefin und meiner Betreuerin sind wir zusammen die Wohngruppen abgegangen, haben alle Räumlichkeiten kennengelernt und uns über die Bewohner, die zu diesem Zeitpunkt noch am arbeiten waren, ausgetauscht. Ich sollte zusammen mit meiner Betreuerin in Wohngruppe 1 arbeiten. In dieser Wohngruppe liegt der Fokus stark auf der Pflege der Bewohner, da die Krankheitsbilder sehr ausgeprägt sind und die Bewohner sich so gut wie kaum selbst verpflegen können. Und dadurch konnte ich den wohl intensivsten Eindruck von der Arbeit mit Behinderten erhalten. Zwar wurde ich von der Pflege ausgeschlossen, doch konnte ich mich sehr genau mit den Krankheitsbildern und dem Verhalten der Bewohner auseinandersetzen.
Ich will weder Namen nennen, noch zu sehr ins Detail gehen, doch will ich die Symptome und Verhaltensweisen einiger Bewohner kurz beschreiben. So war sowohl das Katzenschreisyndrom  als auch das Fragile-X-Syndrom weit verbreitet. Einige der insgesamt acht Bewohner der Wohngruppe 1 sind zu meiner Überraschung sehr selbstständig: So können einige sich alleine anziehen, ihren Tag genau planen und regeln oder die Küche sauber halten. Andere wiederum sind auf intensive Betreuung des Personals angewiesen, weil sie kaum selbstständig gehen können, weil sie sich so gut wie gar nicht artikulieren oder verständigen können oder weil sie spezielle und intensive Bedürfnisse haben.
Während meiner ersten Tage habe ich aufgrund meiner oben erwähnten Unsicherheit eine passive Beobachterrolle eingenommen. Ich habe den zwei Mitarbeiterinnen in Wohngruppe 1 über die Schultern geschaut: Wie ist der Tagesablauf? Wie verhalten sich die einzelnen Bewohner? Wie verhalten sie sich in speziellen Situationen, beispielsweise nach dem Essen? Wie gehen die Mitarbeiter auf die Bewohner zu? Welches Verhalten und welche pädagogischen Maßnahmen legen sie an den Tag? All das musste ich mir zunächst abgucken und selber nach und nach auftauen, um all dies anzuwenden. Doch merkte ich von Tag zu Tag, dass ich immer selbstsicherer werde. Dass ich mir immer mehr zutraue. Dass auch die Mitarbeiter mir immer mehr zutrauen.
Ganz beeindruckt war ich von meiner Betreuerin Sofie*. Nachdem wir mit unserer Chefin den Rundgang durch das Haus gemacht hatten, hat sie mir einiges über die Bewohner erzählt. Als diese dann alle von der Arbeit wiederkamen, durfte ich zusammen mit Sofie einige auf ihr Zimmer bringen. Man sollte meinen, dass sich eine 24-jährige Sofie gegenüber mir, einem jungen, unerfahrenen Praktikanten anders verhält als gegenüber pensionierten Bewohnern, die im Rollstuhl sitzen. Die Wahrheit hat mich dann jedoch überrascht. Die Leichtigkeit, Unbeschwertheit und Coolness, mit der Sofie den Bewohnern gegenübergetreten ist, hat mich beeindruckt. Sie redete mit den Bewohnern, als wären es Freunde oder Verwandte von ihr. Sie verstellte sich überhaupt nicht. Sie behandelte die Bewohner nicht wie kleine Kinder, obwohl sie dies von kognitivem Stand sicherlich sind. Die Gespräche am Esstisch waren geprägt von Witz. Wie in einer Familie, so fragt auch sie regelmäßig, ob es allen schmecken würde, ob noch jemand etwas haben möchte oder alle satt seien. Doch auch einige Bewohner haben mich beeindruckt. Ihr Humor und ihre Schlagfertigkeit auf einige Witze haben auch mich zum Lachen gebracht.
Die ersten Tage gingen schnell rum und, wie erwähnt, wuchs ich immer mehr in meine Rolle als Praktikant rein. Sehr schnell hatten mich die Bewohner "aufgenommen" und nahmen mich als Teil der Mitarbeiter war. Nur ich war etwas langsamer. Ich brauchte etwas Zeit, um wirklich vollkommen offen und frei auf die Bewohner zuzugehen. Nachdem ich jedoch nach den ersten Tagen meine Observationen beendet habe, hatte auch ich keine Berührungsängste oder Scheu mehr. Eigentlich gab es immer etwas, das man mit den Bewohnern machen konnte: Anfangs konnte man höflich fragen, ob sie mir ihr Zimmer zeigen würden. Man konnte ihnen etwas vorlesen, mit ihnen spielen oder sich einfach zu ihnen aufs Sofa setzen und die Hand zur Beruhigung halten. Aber auch Forderungen konnte und musste man stellen: Der Müll musste regelmäßig rausgebracht werden. Der Tisch musste gedeckt und nachher wieder sauber gemacht werden. An all diesen Punkten war Kontaktaufnahme möglich. Doch schnell zeigte sich mir eine schwierige Gratwanderung.
Wie oben erwähnt, ist Wohngruppe 1 die pflegebedürftigste Wohngruppe. Wenige sind selbstständig und wenn doch, dann auch nur in eingeschränktem Maß. Anfangs habe ich mich oft dabei ertappt, wie ich den Bewohnern Arbeit abnehmen wollte. Ein Beispiel: Nach dem Abendessen gehen die meisten auf ihr Zimmer oder legen sich bereits schlafen. Nur wenige sind noch wach und aktiv. Der Tisch muss trotzdem von einem Bewohner abgedeckt und für das Frühstück wieder gedeckt werden. Weil die anderen beiden Pflegerinnen beschäftigt waren und ich nichts zu tun hatte - da viele bereits auf ihren Zimmern waren - half ich dabei, den Tisch aufzuräumen und die Küche zu reinigen. Schließlich übernimmt man solche Aufgaben in einer Familie doch auch. Dass der Bewohner dies jedoch allein machen soll und auch alleine kann, war mir natürlich nicht klar. Ich kannte ihn kaum und vor allem seine eigentlichen Fähigkeiten waren mir nicht bekannt. Diese Gratwanderung zwischen ganz natürlichem Verhalten und der strengen Ausführung von pädagogischen Maßnahmen fiel mir bis zum Ende schwer.
Doch musste auch dieses Praktikum zu Ende gehen. Und es ging zu Ende an einem Punkt, an dem ich das Gefühl hatte, die Einarbeitung geschafft zu haben. Ich habe alle Bewohner kennengelernt. Vor allem die Bewohner aus Wohngruppe 1 kenne ich nun gut genug, um mit ihnen umgehen zu können. Ich kenne den Tages- und Arbeitsablauf, ich kenne die Persönlichkeiten und Eigenheiten der Bewohner. Es war schade, 'Auf Wiedersehen' zu sagen - vor allem, weil selbst die anstrengendsten von ihnen tolle und einzigartige Menschen sind. Mit ihren Behinderungen und Ticks umzugehen, ist das eine. Das andere ist jedoch, den Menschen dahinter zu sehen und ihn lieben zu lernen. Nur, weil einer sich nicht artikulieren kann, hat er nicht keine Persönlichkeit. Nur, weil einer den ganzen Tag abwesend und teilnahmslos im Sessel sitzt, ist er nicht irgendeine leere Hülle. Jeder Bewohner ist so einzigartig und besonders, wie ein jeder meiner Freunde.
Nun heißt es aber: "Ich packe meinen Koffer und nehme mit..." Vieles habe ich in meinen Rucksack, der mich täglich auf die Arbeit begleitet hat, eingepackt. Nun muss ich aber aussortieren, denn ich darf nur 23 Kilogramm an Gepäck mitnehmen. Also:
Einen so strukturierten und vor allem ausgeführten Tagesplan erwarte ich in Südafrika nicht. Vor allem, da ich nicht in einer Wohnstätte arbeiten werde, sondern in einer Werkstatt. Ich bezweifle auch, dass die Arbeit in Südafrika so stark reguliert wird wie in Deutschland. Beispielsweise darf Essen nicht länger als 24 Stunden aufgehoben werden. Dass ich nicht in die Pflege durfte, hat ebenfalls gesetzliche Gründe. Sogar das Fußnägelschneiden ist den Pflegerinnen untersagt, da es sich um Körperverletzung handeln würde. Deswegen muss einmal wöchentlich eine ausgebildete Pflegerin kommen, welche dazu berechtigt ist, die Fußnägel zu schneiden - ganz ähnlich wie beim Friseur. Was jedoch auf jeden Fall in meinen Koffer kommt, ist die Erkenntnis, vollkommen offen und ohne Berührungsängste an die Personen heranzutreten. Während meines Praktikums konnte ich meine Ängste überwinden und bin nun gestärkt und sogar zuversichtlich, was das angeht. Auch habe ich gelernt, die persönlichen Fähigkeiten der Behinderten zu beachten. Ich will sie weder bevormunden, noch vernachlässigen. Die richtige Mischung zu finden, ist schwer, doch ich bin mir sicher, dass ich auch in Südafrika diese Gratwanderung schaffen werde.
Mein Praktikum hat mir sehr viel beigebracht. Mehr, als ich erwartet habe. Es konnte meine Ängste und Unsicherheiten beseitigen. Es hat mir sogar so sehr Spaß gemacht, dass ich überlege, später in diesem Bereich zu arbeiten. Nicht unbedingt als Heilerziehungspfleger, aber mittels einer anderweitigen Beschäftigung. Dies liegt vor allem an den wunderbaren Menschen, die ich kennenlernen durfte. Vor allem die Bewohner, aber auch alle Mitarbeiter des Haus der Lebenshilfe, die stets nett und freundlich waren und mir jederzeit, egal wie doof meine Frage war, eine Antwort gegeben haben. Dafür möchte ich mich bedanken.

*Name geändert

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