Sonntag, 12. Juni 2016

Der Naturzustand des Menschen

Wenn mir Südafrika eines gezeigt hat, dann wie glücklich wir Deutsche uns schätzen sollten, in einem solch sicheren Land zu leben.
Sicher? Die Einbruchszahlen nehmen merklich zu. Flüchtlinge sorgen für das Erwachen rechtspopulistischer Gruppierungen. Vor der eigenen Haustür wütet islamisch-extremistischer Terror.
Ich möchte dies nicht als „Meckern auf hohem Niveau“ bezeichnen, doch sind diese Phänomene vielmehr einzigartig in ihrem Dasein und keinesfalls von dauerhafter oder langfristiger Natur. Verbarrikadiere ich mich, nur weil Einbrüche zunehmen? Meide ich große Menschenansammlungen, nur weil der IS vor einigen Monaten Paris attackiert hat?
In Südafrika verbarrikadiert man sich. In Südafrika geht man auch nicht unbedingt aus dem Haus, wenn man es nicht muss. Meine Zeit in Lotus River – in Deutschland würde man dieses Viertel als sozialen Brennpunkt bezeichnen – hat mir viel über dieses Land verraten. Dort draußen wüten Gangs. 26, 27, 28 nennen sich die Kapstädter Gangs. Der schwache Sozialstaat sorgt dafür, dass vor allem Jugendliche und junge Erwachsene sich von Kriminalität angezogen fühlen. Überfälle sind an der Tagesordnung. Raubangriffe auf stehende Autos, sogenannte Smash and Grab-Überfälle, sind ebenfalls nicht selten.
Gleich vor meinem Wohnhaus in Observatory liegt ein Bahnhof der Metro. Eine Unterführung verbindet uns mit dem Herzen Observatorys, der Lower Main Road, auf der alle Supermärkte, Geschäfte, Bars und Clubs zu finden sind. Nachts, wenn es dunkelt, ist diese Unterführung der wohl gefährlichste Ort in ganz Obs. Weder sieht man, wer am andere Ende oder im Tunnel ist noch brennt irgendein Licht, denn dieses ist kaputt. Ständig hört man Geschichten, wie erneut jemand überfallen und ausgeraubt wurde. Auch uns Freiwilligen ist an diesem Ort schon einiges passiert.
Eines nachts – es war Sommer und ich hatte das Fenster offen gelassen, damit ein bisschen frische Luft ins Zimmer gelangt – bin ich aufgewacht von einem merkwürdigen Geräusch draußen. Als ich meine Augen aufschlug, sah ich, wie eine dunkle Gestalt draußen vor meinem Zimmerfenster stand und mit einem langen Stock versuchte, durch die Gitterstäbe am Fenster das Portemonnaie meines Mitbewohners zu ergattern. Voller Panik sprang ich schreiend und fluchend auf. Der Einbrecher machte sich ganz gemächlich auf und floh. Seit dem lasse ich das Fenster geschlossen.
Es ist schade, erleben zu müssen, zu was Menschen getrieben werden können, gibt der eigene Staat keinen Halt. Der englische Philosoph Thomas Hobbs beschrieb dies in seinem berühmtesten Werk „Leviathan“, welches noch heute großes Ansehen in der Staatsphilosophie genießt. Hobbs ist der Meinung, dass anthropologisch betrachtet der Mensch einen Naturzustand besitzt. In diesen gelangt er in einem staatenlosen Umfeld, in dem es weder Recht und Ordnung noch staatliche Autorität gibt. Ein Mensch im Naturzustand wird gesteuert von seinen natürlichsten Urtrieben: Gier, Neid, Wut. Er folgt keiner Moral, woraus eine Welt der Anarchie und des Chaos entsteht. Hobbs spricht davon, dass der Mensch dem Menschen ein Wolf sei und ein Krieg gegen sich selber führe, wenn ein jeder aus ist auf den Besitztum des anderen. Nur eine Autorität, der jegliche Entscheidungsrechte zugesprochen werden, kann für Ordnung sorgen und verspricht den Menschen Sicherheit und Schutz.
Ein logisches Konzept, doch vollkommen abwegig und haltlos – so empfand ich damals im Philosophieunterricht Hobbs' Ansichten. Doch Südafrika hat mich von dem Funken Wahrheit in jener Philosophie überzeugt.
Die Erlebnisse, die wir Freiwillige in den vergangenen acht Monaten gemacht haben, spiegeln sicherlich nur einen Ausschnitt der Kriminalität in diesem Land wieder. Manche von uns wurden schon zwei Mal überfallen und durften zwei Mal ihr Handy abgeben. Andere wurden in Townships mit Macheten und Messern, gar mit Schusswaffen bedroht. Manche mussten ansehen, wie ein Auto auf der Straße überfallen wurde. Andere wiederum sind aufgewacht und ihr Auto war gleich weg.
Kriminalität ist an der Tagesordnung. Und ich will nicht wissen, wie die Gangs dieser Stadt operieren – die Schießereien in Lotus River, die ich gehört habe, waren mir genug. Die Angst ist leider ein fast ständiger Begleiter. Und es gibt nur wenig, was man tun kann, um sich zu schützen. Keine Wertsachen bei sich tragen. Vorsicht walten lassen und Acht geben. Die zwei Tore zum Vorgarten und zur Haustür immer abschließen. Einbruchsgitter an allen Fenster anbringen. Eine hohe Mauer bauen. Einen Elektrozaun auf die hohe Mauer stellen. Alarmanlagen und Sicherheitskameras installieren. Einen privaten Sicherheitsdienst engagieren, der auf Knopfdruck ein sogenanntes Armed Response-Team losschickt.
Wer will das schon? Eigentlich niemand.
Wer brauch das schon? Leider viele.
Nicht wenige sehen diese Maßnahmen als verwerflich an. Wenn man schon genug Geld hat, um all dies zu finanzieren, dann kann man davon gerne etwas abgeben. Schließlich werden Menschen in Townships und in den Cape Flats auch überfallen und von Gangs penetriert. Menschen, denen eigentlich nicht viel mehr abzunehmen ist. Oft erzählen mir Trainees auf der Arbeit, wie ihnen am Wochenende das Handy geklaut wurde – weil sie nachts alleine auf der Straße unterwegs waren.
Wer kann, der baut eben hohe Mauern. So hoch, dass man die Nachbarn nicht mehr eben beim Grillen im Garten besuchen kann. Dominant markiert man, was Mein und was Dein ist. Die DDR sperrte ihre Bürger unfreiwillig ein. Hier sperrt man sich hingegen gerne ein.
Ehre soll Hobbs erwiesen werden, dafür dass er den Naturzustand des Menschen so festnageln konnte. Ein Jammer, dass er damit Recht besaß.

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